Vertikale Transformationen und stille Wandlungen – ein begrifflich einführender Essay

Von Dr. Jirko Krauß

Wenn in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten Begriffe zu sozialen Leit- und Zauberwörtern der Gegenwart mutieren, dann verursacht das in philosophischen Kreisen mitunter zwei Reaktionen: Auf der einen Seite ruft es vor allem Abneigung und Ablehnung gegen den vermeintlich unreflektierten Gebrauch jener Termini hervor, auf die nicht selten ein Ignorieren auch der dahinterstehenden Phänomene folgt – was schließlich mitunter dazu führt, dass diese Dinge gar nicht mehr Gegenstand philosophischer Reflexionen werden. Die Verwendung stößt auf der anderen Seite, die vermutlich wesentlich kleiner ist, durchaus auf Interesse. Dieses Interesse kann dabei wiederum in zwei Richtungen gehen, nämlich in jene mit eher gesellschaftskritischen Fragestellungen und jene, die sich stärker mit den Begriffen und Phänomenen selbst beschäftigen. Erstere fragt vielleicht, woher die intensive Begriffsverwendung kommt und was es über gesellschaftliche Gruppen oder Milieus aussagt, dass sie jene Bezeichnungen etwa als Imperative benutzen oder als Lösungsversprechen an die Wand malen, mit denen sich Zukunftsherausforderungen meistern ließen. Der hier angestellte Gedankengang verortet sich hingegen eher in der zweiten Richtung, auch wenn mein eigenes Interesse zumeist in beide Richtungen geht.

Ein solches Zauberwort lässt sich mit dem Begriff der Transformation ausmachen, was im Grunde auch für die nah verwandte Bezeichnung Wandel – oder besser: Change – gilt. Im gesellschaftlichen Diskurs dominieren aktuell wohl die sogenannte Digitale Transformation sowie der sogenannte Klimawandel. Es hat sich zudem eine ganze Dienstleistungsbranche herausgebildet, die in Organisationen aller Art für den notwendigen Change sorgen soll, abgesehen von diversen Coaching- und therapeutischen Angeboten für individuelle Persönlichkeitsentwicklungen – die persönlichen Transformationen sozusagen.

Nun ist es nicht so, dass der Begriff der Transformation wie manch andere Zauberwörter recht neu ist. In verschiedenen disziplinären Fachsprachen ist er mit unterschiedlicher Verwendungsdauer schon länger im Gebrauch auszumachen, sowohl in Naturwissenschaften wie Biologie oder Physik als auch in verschiedenen Sozial- und Geisteswissenschaften. Die dahinterliegende Idee ist freilich noch viel älter als der Terminus selbst. Das Gemeinsame scheint hier zu sein, dass es sich bei Transformation um eine Umformung, Umbildung bzw. ein Umwandeln, eine Umgestaltung (in einen anderen Zustand) handelt, auch im Sinne einer Übertragung bzw. einer Umstrukturierung (z. B. eines bestehenden Systems) oder einer Umsetzung von etwas. Charakteristisch ist offensichtlich das Prozesshafte, das ebenfalls im Begriff des Transformiert-Werdens auf den Prozess selbst verweist. Das lateinische Präfix trans können wir mit über, hinaus, hinüber, hindurch, auf die andere Seite übersetzen. In dieser Denkart lassen sich dementsprechend auch unterschiedliche Zustände ausmachen: Die Transformation führt von einem Zustand A hin zu einem Zustand B, wobei B nicht zwangsläufig als konkreter Punkt zu denken sein muss. Ich vermute, dass, je konkreter B gesehen und definiert wird, desto anfälliger ist Transformationsdenken fürs Doktrinäre. Der Aspekt des Grundlegenden ist wichtig, denn es wird deutlich, dass es sich bei Transformation zwar stets um eine Veränderung handelt, dass aber nicht jede Veränderung eine Transformation sein muss. Diese Aussage gilt zumindest dann, wenn wir begrifflich schärfen möchten. Sowohl in den Fachsprachen selbst als auch im Alltag lässt sich ein weiter Gebrauch des Wortes ausmachen, der nahezu synonym zu Veränderung oder zu Wandel verwendet wird. Es lässt sich aber auch eine engere Verwendung des Begriffs Transformation finden, aus der hier einige Aspekte herausgefiltert werden sollen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich demnach auf den überwiegenden Gebrauch in einem engeren Sinne, sind daher deskriptiv und vorerst nicht normativ zu verstehen.

Ein erster Aspekt dieser engeren Begriffsverwendung ist der, dass transformative Prozesse nicht bloß auf beliebige, vereinzelte Änderungen zielen, sondern auf höhere, aufsteigende Entwicklungen hin ausgerichtet sind. Sie betreffen zudem etwas Grundlegendes. Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht im Zusammenhang mit individuellen Entwicklungsprozessen, die aus einem Üben hervorgehen, von Vertikalspannungen. Im Kontext dieses Menschlich-Individuellen ist das Bild von aufsteigenden Entwicklungen und von schlechteren und besseren Zuständen in verschiedenen Kulturen anzutreffen. Auch wenn das nicht heißt, dass der Begriff Transformation ausschließlich in einem solch vertikalen Sinne gedacht wird – es gibt kulturelle Beispiele, in denen sogar Gegenteiliges der Fall ist –, so scheint dem Begriff der Transformation oft eine Vertikalität inhärent zu sein. Es ist interessant dabei zu beobachten, inwiefern andere Begriffe zum Verständnis dieses Aspekts herangezogen werden. Es macht einen Unterschied, ob Transformation hier im Sinne einer Entfaltung, einer Evolution, einer Entwicklung, gar eines Fortschrittes oder einer eigenen genuinen Weise der Veränderung gedacht wird. Es ist gerade die moderne Idee des Fortschritts, die in heutigen, vor allem populären, teils ideologischen Verwendungsweisen immer wieder im Zusammenhang mit Transformation auftaucht. Es ist das gleiche Bild des Fortschritts, dass wir im Zusammenhang mit der Digitalen Transformation ausmachen können. Die Verwendung des alternativen Wortes Wandel schein hier nicht die gleiche Überzeugungskraft zu besitzen.

An dieser Stelle kommt freilich noch ein zweiter Aspekt hinzu, dass nämlich Transformationen intendiert sind. Im Gegensatz zum Begriff der Digitalisierung, der ein Phänomen beschreibt, in dem Menschen den Veränderungen durch digitale Technologie vor allem passiv ausgesetzt sind, soll Digitale Transformation die bewusste Hervorbringung dieser Veränderungen akzentuieren und damit Gestaltung bzw. Gestaltungsmöglichkeiten suggerieren. Dabei mag außeracht gelassen werden, dass die Digitale Transformation nicht von allen Menschen auf dieser Erde gewünscht und angestoßen worden ist, ja, dass diesen Anstoß im Grunde nur eine vergleichsweise kleine Minderheit gegeben hat – goutiert freilich von einer größeren Menge in verantwortungsvollen Positionen. Andererseits hat es im Hinblick auf diesen Aspekt seinen Grund, warum wir von Klimawandel und nicht von Klimatransformation sprechen, denn dieser Wandel war bzw. ist sicherlich nicht intendiert. Das Bremsen der Entwicklungen, der Aufschub, womöglich eine Umkehr könnten hingegen schon als beabsichtigte Bewegungen verstanden werden. Es scheint im Hinblick auf den erstgenannten Aspekt der Veränderung von etwas Grundlegendem zwar vermessen zu sein, das Klima grundlegend ändern zu können. Die dabei im Fokus stehende Lebensweise ist es allerdings schon. Das firmiert in Teilen der Diskussion unter der sogenannten sozialökologischen Transformation.

Transformation kann also als eine intendierte und gerichtete Veränderung verstanden werden, die auf etwas grundlegend Anderes verweist, die etwas ändert, so ließe sich vereinfacht sagen, das Gewicht hat. Dies gilt sicherlich auch bei den Selbstwandlungsprozessen, also bei persönlicher Transformation. Der französische Philosoph Michel Foucault hat Philosophie selbst betrachtet als „jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden als man ist.“ Die Phänomene des Handelns, der Gestaltung sowie Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung spielen dabei eine zentrale Rolle, die in verschiedenen Sichtweisen philosophischen Transformationsdenkens jeweils etwas anders vorgestellt wird. So wird etwa bei Sokrates und Spinoza wie auch bei Karl Jaspers Transformation sowohl mit einem Entwicklungsprozess als auch mit Freiheit verbunden. Gerade bei Spinoza steht dabei der Gedanke im Vordergrund, dass Freiheitsgrade sich erst allmählich im Prozess des Erkennens herausbilden. Dabei nimmt die gestaltende Aktivität bzw. die aktive Gestaltung eine wichtige Funktion ein und steht in Zusammenhang mit einer Mächtigkeit, einer Potentialität.

Ein ganz anderer Zugang lässt sich in einem Strang chinesischen Denkens ausmachen – was vor allem mit der Sprache selbst in einem zentralen Zusammenhang steht, wie der französische Philosoph François Jullien mit dem Begriff der transformations silencieuses, den stillen Wandlungen, gezeigt hat. Bei diesen handelt es sich um etwas grundlegend Anderes als bei den oben genannten und als fassbaren Umbrüchen zu deutenden Transformationen. Diese stillen Wandlungen seien Veränderungen, die in ihrem Prozess unseren Augen entgehen und nicht auffallen, weil sie in winzig kleinen Schritten ablaufen und nicht auf sich aufmerksam machen. Erst ihre Ergebnisse treten uns plötzlich vor Augen – dann etwa, wenn wir im Hinblick auf unser Altern auf eine sehr alte Fotografie von uns und dann in den Spiegel blicken. Diese stillen Wandlungen sind in der Regel nicht intendiert und laufen nicht auf ein konkretes Ziel zu.

Interessant ist dabei vor allem unsere Perspektive darauf, unsere Deutung, vor allem auch das Verhältnis der stillen Wandlungen zu den Transformationen. So gilt es zu fragen, ob sich das, was als Transformation im engeren Sinne gedacht wird, als intendiertes Einflussnehmen auf den Fluss der stillen Wandlungen deuten ließe. Ich gebe zu, das ist ein instrumenteller Gedanke. Und trotzdem: Können die bewussten und reflexiven Impulse diesen stillen Wandlungen eine Orientierungsrichtung vorgeben und beschleunigen womöglich deren normalerweise langsamen Fluss? Hier trifft freilich europäisches auf chinesisches Denken: Auf der einen Seite ein Akteur, ein eingreifendes Subjekt, auf der anderen eine von sich aus ablaufende Wandlung. Ob hier die Steuerungsmetapher fruchtbar ist, müsste erforscht werden.

Auf dieses Verhältnis wird demnächst weiter einzugehen sein – gleichfalls auf die Frage, wie Transformation noch zu denken sein könnte.

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